Ansprache Vor uns ist die Geschichte eines Baumes. Die Jahresringe in einer Baumscheibe geben uns sicher Grund, über unser Zusammensein nachzudenken: Heinz Pfäffle und Walter Maurus haben uns diese Baumscheibe besorgt und wunderschön hergerichtet. Erna Schoor hat sie uns als Bild geschenkt und Ihr alle habt auf Eurer kurzen Wanderung etwas vom oder um den Baum hier vorne abgelegt. Im Zeit-Raum-Verhältnis der Natur, beispielsweise zu sehen an dieser Baumscheibe hier vorne, laufen die Vorgänge ohne menschliches Zutun ab. An den Bäumen bleiben jedoch sichtbare Spuren, an denen man verflossene, gespeicherte Zeit ablesen kann. Solche „Fingerabdrücke der Zeit“, auch als „Naturuhren“ bezeichnet, sind eben auch die „Jahresringe von Baumstämmen“. Die Jahresringe eines Baumes verraten uns durch ihre Stärke die verschiedenen Wachstumsphasen im Frühjahr, Sommer und Herbst und die Ruhezeiten im Winter. Ob Sonne, Krankheiten oder Konkurrenz von Nachbarbäumen - es ist wie beim Menschen: Auch wir kennen für uns schlechte, trockene Jahre, das sind schwierige Lebensphasen (wie Krankheiten oder familiäre Rückschläge, verkorkste Lebenspläne), auch wir stehen im Schatten anderer oder konnten unseren Lebensablauf nicht so ordnen, wie vorgesehen. Die inneren Ringe eines Baumes sind abgehärtet, geben ihm Rückgrat – es sind beim Menschen wohl die jungen Jahre, die entscheidend für seine Tragfähigkeit im weiteren Leben sind.Die unter der Rinde liegende Schicht, das sogenannte Kambium, geben den jeweils neuen Jahresring. Die oft tiefen Kerben und Einschnitte in den Ringen signalisieren uns Schicksalsschläge, Verletzungen, Umwelteinflüsse, schwierige Lebenssituationen, die oft Spuren für immer hinterlassen. Bäume müssen, wenn überhaupt, „sachgerecht“ geschnitten werden, ohne dass sie leiden. Altes Holz muss raus. Auch wir Menschen müssen uns gelegentlich von etwas, am Besten freiwillig, trennen, mit Gewalt genommen, tut es weh, bleiben Kerben. Da ist aber auch noch einiges Beiwerk zu beachten: Heute habt Ihr Gegenstände aus der Natur mitgebracht, die fast alle mit dem Baum zu tun haben. Ich denke beispielsweise an Gewächse, die sich manchmal am Baum empor, um den Baum herumranken, sich als Schmarotzer vom Baum noch ihre Nahrung holen. Hier sind Parallelen für uns Menschen erkennbar, Menschen und Ereignisse, die uns einengen und zu ersticken drohen. Da gibt es aber auch den guten Boden, Quellen, die immer für Wasser und Nahrung sorgen – Menschen, die uns befruchten, mit denen es sich lohnt, das Leben und die Freude zu teilen. Beide – Mensch und Baum – sind bemüht, ihre Wurzeln bis zur Wasserquelle auszustrecken. Alle Ringe der Baumscheibe kreisen um die Mitte. Um welche Mitte lege ich meine Jahresringe? ist eine Frage. Steht mein Ich im Mittelpunkt, sind es die anderen Menschen oder ist es Gott? Wir sollten versuchen, sowohl in dürren wie in fruchtbaren Jahren unsere Jahresringe richtig zu setzen. In einem Gedicht von Rainer Maria Rilke heißt es am Ende: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang. - Dazu passt eine kurze Baumgeschichte, die auch mit uns zu tun haben könnte: „Die Palme“ Durch eine Oase ging ein finsterer, immer griesgrämiger Mann. Er konnte nichts Gesundes und Schönes sehen oder sich daran erfreuen, ohne es zu verderben und zu zerstören. Am Rande der Oase stand eine junge Palme im besten Wachstum. Sie stach dem finsteren Mann in die Augen. Da nahm er einen schweren Stein und legte ihn der Palme genau in die Krone. Er trat noch einmal kräftig drauf, damit der Stein auch richtig drückt, und mit einem hämischen und bösen Lachen ging er weiter. Die junge Palme schüttelte sich und bog sich und versuchte, die schwere Last abzuschütteln. Doch vergebens, was sie auch versuchte, der Stein saß´ einfach zu fest in der Krone. Da krallte sich der junge Baum tiefer in den Boden und stemmte sich gegen die schwere steinerne Last. Er senkte seine Wurzeln so tief, dass sie die verborgene Wasserader der Oase erreichten. Die Palme stemmte den Stein so hoch, dass die Krone über jeden Schatten hinausreichte. Wasser aus der Tiefe und Sonne aus der Höhe machten eine königliche Palme aus dem jungen Baum. Nach Jahren kam der finstere Mann wieder zurück, um sich an dem verkrüppelten Baum zu ergötzen, den er damals verdorben hatte. Der Mann suchte vergebens. Da senkte die stolze Palme ihre Krone, zeigte ihm den Stein und sagte: Danke, du und deine Last haben mich stark gemacht! | |
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